In neun Semestern Studium sammeln sich wahre Papierberge an. Aber schaut man in die Uni-Unterlagen jemals wieder hinein? Das findet man doch alles im Internet – oder etwa nicht?
Ich glaube, ich habe am Wochenende etwas Schlimmes getan. Ich habe meine Uni-Unterlagen weggeworfen: die Vorlesungsmitschriften, Referats-Handouts, all die mit viel Mühe und teuren Kopierkarten kopierten Arbeitsmaterialien – Papierberge aus neun Semestern Germanistik, Anglistik und Jura. Alles im Müll. Das Material war mit mir in und aus fünf Wohnungen gezogen und dann von Bonn nach Berlin. Immer lag es griffbereit in Schreibtischnähe: Man hätte es ja schließlich mal gebrauchen können. Irgendein Zitat für einen Artikel, eine Idee, eine Anspielung. Oder vielleicht wollte man mal jemandem beweisen, dass man sich auch einst mit anderen Dingen beschäftigt hat. Mit Baudelaire und Freud, mit Benn, Poe und Frau Puppe.
Aber es geschah nie. Stattdessen nutze ich Suchmaschinen und rufe Experten direkt an. Mein Uni-Kram: Staubfänger und im Falle eines Wohnungsbrandes mein Verderben. Seit Jahren haderte ich damit, mich davon zu trennen. Jetzt habe ich es getan. Und fühle mich schlecht. Warum? Als ich alles nach unten trug, dachte ich: „Das kannst du doch alles zur Not im Internet nachlesen. Und in dem Wust findest du eh nie wieder, was du suchst.“ Aber als ich die Treppe wieder nach oben ging, fühlte es sich an, als hätte ich gerade fünf Jahre Uni weggeworfen. Und das Wissen meiner Professoren.
Wir haben uns daran gewöhnt, dass das Internet alles weiß, aber tut es das? Kennt es die Ansichten meiner Mediävistik-Professorin über die Frauenfiguren in Eschenbachs „Parzival“? Oder Herrn Dörrs großartige Vorlesung über Melancholie im Sommersemester 2004? Die hätte man filmen und, wie viele Unis es heute mittlerweile tun, ins Web stellen sollen, für die Ewigkeit erhalten. Ich hatte etliche Seiten mitgeschrieben, all die Ideen und Ausführungen.
Hätte ich prüfen müssen, ob es dieses Wissen schon im Web gibt? Wäre es andernfalls meine Verantwortung gewesen, es dorthin zu bringen und so zu erhalten? Ich kann mich doch kaum darauf verlassen, dass Herr Kern, mittlerweile wohl emeritiert, nun von daheim aus Wikipedia vollschreibt? Vielleicht gehe ich doch noch mal in den Hof und hoffe, dass mein Nachbar nicht wieder seinen Biomüll zum Papier geworfen hat. Andernfalls ist die Lehre der vier Körpersäfte jetzt in feuchtem Gemüse aufgeweicht. Ich habe möglicherweise Wissen weggeschmissen, bevor es im Internet landen konnte. Es tut mir leid.