Als es noch kein Internet gab, war der Videotext mein Internet. Mehrmals am Tag, eigentlich in jeder Werbepause, surfte ich mit der TV-Fernbedienung auf den ARD/ZDF-Text (erst ab 2000 hatte jeder seinen eigenen Videotext) auf die Seiten 200 für Sport, 250 für Fußball. Dann auf 571 für den Witz des Tages und 572 zur Scherzfrage des Tages – die Antwort konnte man sich dann interaktiv mit der Fragezeichentaste auf der Fernbedienung anzeigen lassen. Wenn ich Langeweile hatte, schaute ich mir meditativ das Teletexttestbild auf Seite 199 oder 899 an (wo die ARD heute als „Die letzte Seite“ fast schon im Zeitungsstil eine kuriose Meldung bringt). News las ich aber im Sat.1-Text. Dort war auf 110 eine (privatfernsehentypische) Mischung aus harten Nachrichten und buntem Kram. Bei ARD/ZDF war die 110 eher schwere Kost, was auch zum schwarzen Hintergrund der Seite passte. Dafür hatte man dort den Vorteil, dass man sich mit 111 BreakingNews in das aktuelle Programmprogramm einblenden lassen konnte – quasi die Pushnotification der 1980er. Man kann es sich als Digital Native kaum vorstellen, aber noch heute ist Teletext ein Massenmedium.
Zum 35. Geburtstag am 1. Juni 2015 hieß es in der Pressemitteilung des ZDF: „Im Jahr 2014 haben im Durchschnitt pro Tag 11,68 Millionen Zuschauer den Teletext aufgerufen. Mit einem Marktanteil von 38,3 Prozent (ARD Text: 19,8 Prozent, ZDFtext: 18,4 Prozent) erreichten die beiden öffentlich-rechtlichen Sender im vergangenen Jahr wieder Spitzenwerte und festigten ihren Stand als Massenmedium mit hoher Reichweite.“
11,68 Millionen nutzen täglich Videotext, zum Vergleich: Facebook nutzen täglich 18 Millionen Menschen in Deitschland. Mit den Teletexten der Dritten Programme, den Digitalkanälen von ARD und ZDF, sowie den Gemeinschaftsprogrammen 3sat, ARTE, Phoenix und KiKA erreichten ARD und ZDF 2014 einen Marktanteil von 62,3 Prozent. Die Privatsender teilten sich die restlichen Prozentpunkte so auf:
Ich durfte selber mal einige Zeit Videotext bestücken. 2005 war ich bei Sport1.de, das damals mit dem DSF nur das Gelände gemein hatte, und dort gab es einen Raum, in dem vier Leute Teletext machten, von morgens bis abends. Zu der Zeit füllte Sport1 die Sport-Seiten von Sat.1, Pro7, N24 und Kabel1 – wenn ich mich nicht irre.
Als Redakteur hat man im Videotext für seine News Platz für 25 Zeilen zu je 40 Zeichen. Nicht viel, aber den gilt es optimal zu nutzen. Was schon eine Herausforderung ist mit fester Zeilen- und Zeichenbreite – jeder Umbruch konnte zu unschönem Freiraum und Platzverschwendung führen. Bei der Zeitung kann man ja zur Not schummeln und die Schrift verkleinern oder die Spaltenbeine breiter machen, wenn man mehr Platz braucht. Aber Videotext ist im Vergleich dazu fast schon Kunst.
Fußball-Weltmeisterschaft 1990 jetzt live ab Seite 840
Wie ich jetzt auf das Thema Videotext komme? Der ARD-Text lässt gerade bis zum 10. Juli 2015 die WM 1990 zum 25.Jubiläum wieder aufleben. Die Seiten 840f. werden in dieser Zeit von der Redaktion so befüllt, als befänden wir uns im Sommer 1990. Nutzer können in Echtzeit den Weg des DFB-Teams bis zum Titel in Rom verfolgen.
Heute vor 25 Jahren: Deutschland nun gegen Niederlande, erste Losentscheid der Gechichte, Schlafwagen. #WM1990 pic.twitter.com/uDq7nA9fcc
— Teletext im Ersten (@ARDText) June 21, 2015
Stopp, Sie müssen jetzt nicht zum Fernseh-Gerät rennen. Den Teletext gibt es mittlerweile auch im Internet auf ard-text.de. Auf Seite 840 ist das WM90-Special. Dort erfährt man gerade, dass der 29-jährige Maradonna wegen einer Knöchelverletzung nicht trainieren kann und dass Häßler für das Achtelfinale ausfällt.
Auf die WM90-Aktion bin ich gestoßen, weil der ARD-Text twittert. Übrigens hat es der ARD-Text auch konzeptionell geschafft, Twitter als Second Screen in den Fernseher zu holen. Unter verschiedenen Aktionen sticht natürlich der Tatort hervor, der jeden Sonntag auf Twitter das Highlight der Woche ist. Es wird hinterfragt, gescherzt, sich über das Drehbuch empört – ein unterhaltsames Ereignis, dass man aber eigentlich nur auf Twitter erleben kann. Doch das Team des ARD-Text sammelt die besten Tweets und stellt sie vom Twitter-Account @ardtext777 erlesen gesammelt in den Videotext auf Seite 777. Web2.0 für TV2.0-Nutzer.
An anderer Stelle kommt der ARD-Text dem Bildungsauftrag der Öffentlich-Rechtlichen nach: Ab Seite 870 findet man „Nachrichten leicht“. Dabei handelt es sich um eine Übernahme vom Deutschlandfunk. Jeden Freitag werden hier die Nachrichten der Woche in einfacher Sprache aufbereitet. Auf nachrichtenleicht.de heißt es: „Nachrichten sind aber meistens kompliziert. Dann verstehen sie nicht alle. Das soll anders werden. (…) Einfache Sprache soll dabei helfen, Informationen besser zu verstehen. In Einfacher Sprache sind zum Beispiel die Sätze kürzer. In jedem Satz wird nur eine Sache erklärt, nicht viele auf einmal. Schwierige Wörter ersetzen wir durch einfachere. Wenn wir ein schwieriges Wort doch benutzen müssen, dann erklären wir das schwierige Wort.“
Ein Credo, dass man sich auch an anderer Stelle des Journalismus vornehmen könnte.
Was man in diesem Bild auch sieht: Bei Texten, die über mehrere Seiten gehen, muss niemand mehr im Internet warten – man landet direkt auf Seite 1 des Artikels. Für Videotext-Neulinge: Wegen der Platzlimitierung werden im Videotext die Inhalte bei längeren Texten über mehrere Unterseiten verteilt. Der Fernseher geht permanent alle Seiten von 100 bis 899 durch, erreicht er wieder die Seite, bei der man gerade ist, wird diese dann aktualisiert (wichtig bei Sportergebnissen samstags zwischen 15:30 und 17:30) bzw. springt der Artikel auf die nächste Unterseite. Man musste also schnell genug lesen, da man das Umblättern nicht verhindern konnte. Das hatte aber auch zur Folge, dass man manchmal auf Seite 6 von 8 landete und warten musste, bis der Videotext bei Unterseite 1 war, um den Artikel dann von Beginn an lesen zu können.
Im Internet ist es etwa mit vergleichbar mit Textankern zu Sprungzielen, die den User auf bestimmte Absätze im Text bringen, nur dass hier im Videotext es eher Zufall ist, wo im Text man schließlich landet. Früher waren solche Seiten mit großer Unterseitenzahl auch ein Testbildersatz im Fernsehen, wenn es kein Programm gab. Dann zeigte der WDR zum Beispiel eine Seite, bei der auf 18 Seiten die Lokalnachrichten aus ganz NRW gezeigt wurden. Das war mal echter Leanbackjournalismus.
Später kamen dann Fernseher, die einen Videotext-Zwischenspeicher hatten. Bei denen war es dann möglich, frei zwischen den Unterseiten hin und her zu springen. Mit so einem Gerät fühlte man sich wie der King of Videotext. Eine Sache wird er aber nie haben: Ein Archiv. Während im Internet unendlich Platz ist, hat der Teletext nur 899 Seiten. Was da nicht reinpasst, gibt es nicht. Wenn man es so betrachtet, ist Videotext nicht das Internet im TV-Gerät, sondern die Zeitung der Fernsehsender.
Auch den ZDF-Text gibt es online: aber nur als Unterseite von zdf.de. Man hat aber noch einiges damit vor: „Für das Jahr 2015 ist ein responsives Internetangebot auf HTML5-Basis geplant, das es möglich macht, den ZDFtext auf allen gängigen Browsern, Tablets und Smartphones barrierefrei zu empfangen“, heißt aus Mainz. Man sieht, Videotext lebt. Ohne noch.
Auch wegen solcher Mitmachaktionen bei den Privatsendern für Menschen, die eine Meinung haben,
Seit heute Mittag haben nochmal 5 weitere Personen mitgemacht. Klarer Sieg für JA. @ProSieben bewegt. pic.twitter.com/SzvOhrpXx2
— Marc Biskup (@marcbiskup) February 24, 2015
oder die einen anderen Menschen suchen.
https://instagram.com/p/xAgs2BvIHD/
Der Vollständigkeit halber und zum Rumsurfen: Hier die Videotexte von RTL, Vox und alle der SevenOne-Mediagruppe in diesem Tool auch frei switchbar (leider passt der Iframe nicht ganz hier rein, aber Sie schaffen das schon)