Als ich gestern nach Hause kam, fühlte ich mich, als kehrte ich von einer Schlacht heim. Eine andere als der normale Newskrieg, den wir sonst gegen unsere Konkurrenz führen. In dem man immer schneller und klüger sein will. Katastrophen, Kriege, Amokläufe – die Informationen kommen rein und als Newsredakteur verarbeitet man sie zu einem informativen Artikel, nüchtern und ehrlich. Ich gebe zu, ich bin ein Newsjunkie: Große Nachrichtenlagen sind mein Sauerstoff. Wahlen, Skandale, Erdbeben, schnell sein, Übersicht behalten, den nächsten Dreh finden. Das Schrecklichste ist es als Newsmanager, eine Nachricht falsch eingeschätzt zu haben. Sie kennen die Pilot-Folge der US-Serie „The Newsroom“? Da erkennt der neue Leitende Redakteur auf Anhieb die Deepwater-Horizon-Situation vor Louisiana, sein Vorgänger redet sie klein. Den ganzen Tag halten wir Newsleute Ausschau nach der wichtigsten Nachricht. Keine verpassen, keine zu gering schätzen. Und immer bereit sein für den seltenen Fall einer „BLITZ-Meldung“ der dpa, die Steigerung von Eilmeldung. Aus Spaß an News habe ich die 26 bisherigen seit 1951 irgendwann mal auswendig gelernt.
Über die Jahre habe ich gelernt, dass der Leser sich mehr für zehn Tote auf der A44 als für 100 Tote im Jemen interessiert. Das ist ein Fakt, jeder Traffic-Report bei jeder Seite wird das belegen. Trotzdem hören wir nicht auf, dem Leser Jemen-Artikel anzubieten – denn die Lage ist wichtig, nicht nur für die Menschen dort, sondern für das Verständnis dieser Welt. Doch dieses Mal merkte ich an mir selber, wie nah einem eine Nachrichtenlage gehen kann, wenn sie eben näher an dir dran ist. Das hier war eine Airline, mit der ich schon oft geflogen bin, eine Klassenfahrt, die ich so auch gemacht habe und die viele Kinder, die ich kenne, irgendwann mal machen werden, eine Massentötung, die, wie Merkel sagt, schier unvorstellbar ist. Die letzten Tage waren hart. Bei allen Nachrichtenlagen, die ich seit 2008 erlebt habe, konnte ich immer noch sagen, dass mir dieser Job Spaß macht. Spaß gibt es dieses Mal nicht.
Es ist ein Privileg des Journalisten, Dinge als Erster zu erfahren, alles zu erfahren und zu entscheiden, was der Leser in welcher Form jetzt erfahren muss, damit er die Sachlage versteht und sich ein Bild davon machen kann, was passiert ist. Eine ehrenvolle Aufgabe, ein Service-Auftrag. Doch dann bei der 4U9525-Lage wirklich jedes schreckliche Detail zu lesen – in manchen Momenten wollte ich lieber für ein paar Sekunden die Augen schließen, bis diese Info unten aus Bildschirm rutscht. Es ging von einer Unfassbarkeit zur nächsten. Ich persönlich begegne den Tragödien dieser Welt meist mit einem inneren Zynismus, er hilft mir Abstand zu behalten. Eine Distanz, wie sie auch Ärzte zu ihren Patienten haben und brauchen. Eine Krankheit ist ein Fall, eine Naturkatastrophe eine Nachrichtenlage. Aber die Fakten, die sich derzeit in den Agenturen und im Livestream entfalteten, und die unsere Reporter reintelefonieren, sie überbieten die Szenarien des Zynikers. Ach komm, lieber Gott, das habe ich doch nur zum Scherz gedacht, das kann doch jetzt nicht wirklich passieren. So wie damals das rauchende World Trade Center ein Film gewesen sein muss, kann ein Pilot, der mit 149 Menschen in einen Berg fliegt, doch nicht real sein.
Aber Staatsanwalt Brice Robin in Marseille wiederholte für mich am Donnerstag immer alle wichtigen Sätze: „Der Copilot hat mit Vorsatz den Landeanflug eingeleitet. Ich wiederhole: Der Copilot hat mit Vorsatz den Landeanflug eingeleitet. Der Copilot war ohne Zweifel am leben, er hat normal geatmet. Die Landeprozedur kann man nicht versehentlich einleiten.“ Die Eilmeldungen kamen dann nur langsam rein, mir war, als würden die Agenturreporter es selber nicht begreifen können, was sie da hörten. Nur die dpa tickerte und tickerte jede einzelne Aussage solo: EIL/Germanwings/Absturz/siebzehn, EIL/Germanwings/Absturz/achtzehn. Die dpa schrieb es, die N24-Übersetzerin sagte es. Als ich merkte, dass ich seit Minuten meinen Kollegen um mich herum laut wiedergab, was die Übersetzerin im Stream mir ins Ohr übersetzte, zog ich den Kopfhörerstecker aus dem Computer. Es war real, denn mein Kollege ergriff sofort Maßnahmen und verteilte Aufgaben an die Redaktion. Ich war vorbereitet auf eine Eilmeldung, denn eine PK kann immer eine ergeben, aber nicht auf diese. Dann fing ich an, den Aufmacher zu schreiben, ungläubig der Worte, die ich da tippte.
Nein, Spaß macht es gerade nicht, aber wir funktionieren. Ich bin immer wieder beeindruckt, wie die „Welt“-Redaktion innerhalb von Minuten nach der ersten AFP-Eilmeldung am Dienstag um 11.39 Uhr („Airbus A320 in Frankreich abgestürzt (Sicherheitskreise)“, 11.45 kam die Info: Germanwings) bis jetzt als perfekt abgestimmte Maschinerie arbeitete, wie Kompetenzen und Talente ineinander griffen. Es gehört zu unserem Alltag, neue Fakten schnell einzuordnen und die Geschichte zu erkennen. Bei 4U9525 musste es auch schnell sein, aber auch noch präziser, maximale Sensibilität, nicht weniger informativ wirken als die Konkurrenz, zugleich nichts überdrehen. Der Grat zwischen Desinteresse und Shitstorm ist schmal.
Ich habe heute irgendwo einen Blogeintrag gelesen, dass in diesen Tagen der Begriff „Nachrichten“ kaputt gemacht worden sei. Das glaube ich nicht. Was die meisten anderen Seiten machten, sah nicht danach aus. Und auch von uns wurde er nicht kaputt gemacht, das kann ich mit gutem Gewissen sagen. Wir haben nie Fakten geschaffen, sondern Fakten aufbereitet und diesem Wimmelbild an Informationen eine Struktur gegeben. Dutzende Kollegen sind hier involviert, brachten ihre Expertise und ihre Experten in die Berichterstattung. Und immer mit der Maßgabe: schnell, korrekt, fair. Um meinen Freunden unseren Job zu erklären, sage ich immer: Bei uns im „Welt“-Newsroom (Video) ist es wie in „The Newsroom“, oder in der Serie ist es wie bei uns, wir haben nur nicht diesen Liebeskram.
Diese A320-Nachrichtenlage ist in ihrer Unfassbarkeit kaum zu ertragen. Aber wenn wir es können und funktionieren, dann helfen wir unseren Lesern, sie auch zu ertragen. Darum bin ich unfassbar gerne Nachrichtenredakteur.