YouTube ist ein großer Schatz. Vor allem gegen Langeweile: Man findet und lernt dort vieles über erstaunliche Leidenschaften und mit welcher Obsession sie ausgelebt werden. Für die meisten Videos hat sich die Länge von zwei bis drei Minuten etabliert. Neuerdings gibt es auch immer mehr Sechs-Sekunden-Clips. Man könnte also annehmen, dass das Internet nicht gerade dafür trainiert, einer Sache längere Aufmerksamkeit zu widmen.
Aber gerade wenn es um Leidenschaften geht, spielt Zeit tatsächlich keine Rolle. Es gibt Videos auf YouTube, in denen Leute eine halbe Stunde lang Pop-up-Bücher aufklappen und rezensieren oder einstündige Häkelanleitungen mit vollständigem Durchhäkeln geben. Auf der Zeitskala scheint der Raum nach rechts schier unendlich. Mein neue Entdeckung: Zugreisen. Eine wunderbare Zeitvergeudung.
Stunde um Stunde wird die Fahrt aus der Zugführerkabine gezeigt, komplette Routen. Die Welt, wie sie der Lokomotivführer sieht. So kann man zum Beispiel die neun Stunden 53 Minuten dauernde Fahrt vom norwegischen Trondheim nach Bodø erleben. Da sitze ich also in Berlin, lehne mich zurück und sehe, wie Norwegens Landschaft an mir vorbeizieht. Sogar zu verschiedenen Jahreszeiten, denn es gibt von der Fahrt vier Videos: im Frühling, Sommer, Herbst und Winter.
Durch den Urwald oder durch Schottland?
Oder doch lieber durch Myanmar und von Thazi nach Kalaw in vier Stunden 50, durch den Dschungel und an Holzhütten vorbei? Oder durch das regnerische Schottland von Glasgow weit in den Norden nach Fort William, vorbei an Loch Lomond? Oder Sie fahren zum Einstieg erst mal von San Remo nach Genua, das dauert nur etwa zwei Stunden. Wem das alles nicht reicht: Es gibt auch ein Video des Passagierschiffs „MS Nordnorge“, das 134 Stunden lang die norwegische Küste entlang fährt.
Ich persönlich fahre ja gerne Zug. Auch wegen der Abenteuer natürlich, die man mit der Deutschen Bahn erleben kann. Aber vor allem deshalb, weil ich dort so konzentriert arbeiten kann. Vielleicht ist es tatsächlich dieses beständige Geräusch der Schienen, das mich beruhigt. Studien zufolge ist ein relativ gleichmäßiger Geräuschhintergrund ideal für konzentriertes Arbeiten. Womöglich sind die Videos ja auch eine Möglichkeit, die Produktivität im Büro zu steigern: Einfach mal auf einem Tab die Reise von Christchurch nach Springfield durch Neuseeland starten, und schon hat man mehr als drei Stunden Gleisgeräusch-Mantra.